Über Jahrzehnte haben Ärzte MS Erkrankte vor Impfungen gewarnt. Militante Impfgegner schüren aktuell ganz allgemein vehement nun auch die Vorbehalte gegen die Covid-19 Impfung und verunsichern durch Falschinformationen die Bevölkerung. Bitte achten Sie daher auf verlässliche Quellen, aus denen Sie ihre Informationen beziehen.
Zu Impfungen mit Tot-Impfstoffen bei MS Erkrankten wurden in den letzten Jahren viele Daten veröffentlich. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Impfung mit Tot-Impfstoff einen Schub auslösen könnte, ist demnach extrem gering (Zettl, Beiträge in der DMSG-Verbandszeitschrift aktiv!, Ausgaben 03 und 04/2020). Auch das Auftreten einer MS oder einer anderen Autoimmunerkrankung nach einer Impfung konnte durch eine umfangreiche Untersuchung nicht bestätigt werden. Impfungen mit Lebendvirus-Impfstoffen werden etwas kritischer beurteilt, da sie eine stärkere Immunreaktion hervorrufen. Dennoch besteht auch hier keine absolute Gegenanzeige. Im Einzelfall muss immer abgeschätzt werden, welches Risiko die Krankheit in sich birgt, vor der die Impfung schützen soll und welches Risiko die Impfung mit sich bringt. Wir wissen, dass nach Infekten, dass Schubrisiko erhöht ist. Im Vergleich dazu ist das Schubrisiko nach einer Impfung sehr gering. Jede Impfung ist eine Abwägung zwischen der Angst vor der Impfung und der Angst vor der Infektionskrankheit und ihren Folgen, die damit aber mit hoher Wahrscheinlichkeit verhindert wird.
Da die Covid-19 Infektion in zehn Prozent der Fälle einen schweren Verlauf nimmt und der Fall-Verstorbenen-Anteil in Deutschland zwischen zwei und drei Prozent liegt (vgl. Robert-Koch-Institut), empfehlen wir MS-Erkrankten nach heutigem Stand, sich und andere durch die Impfung zu schützen. Zudem können auch nach einer mild verlaufenden Infektion langanhaltende Symptome (Long Covid) auftreten, wie Geschmacksstörungen und, für MS-Erkrankte besonders beeinträchtigend, chronische Müdigkeit, Fatigue und Depressionen, vgl. Robert-Koch-Institut (RKI).
Wenn ein Krankheitserreger - in diesem Fall das SARS-Cov2-Virus - in den Körper eindringt, sucht er sich eine Wirtszelle, in der er sich vermehren kann. Hierzu benutzen alle Viren ihr Erbgut (bestehend aus RNA oder DNA), das heißt bei jedem Virusinfekt ist fremde RNA/DNA in der Zelle. Nur so kann sich das Virus vermehren. Der Körper versucht dann, das Virus durch sein Immunsystem zu eliminieren und benutzt dazu Abwehrzellen und die Bildung von Antikörpern. Nach einer abgelaufenen Infektion lassen sich in der Regel diese virusspezifischen Antikörper nachweisen und bieten zusammen mit der Immunität auf zellulärer Ebene einen Schutz vor einer erneuten Infektion. Bezüglich Covid-19 gibt es aber Hinweise, dass der von einer Infektion Genesene weiterhin Viren ausscheidet könnte und daher über die Erkrankungsphase hinaus eine Infektionsquelle sein kann. Daher gelten auch für Covid-19 Genese weiterhin die Hygienemaßnahmen.
Eine Impfung soll den Körper vor Erkrankungen schützen, obwohl dieser noch nie mit dem Erreger der Erkrankung konfrontiert wurde. Sie ist somit eine klassische Präventionsmaßnahme. Dabei wird mechanistisch das körpereigene, adaptive Immunsystem mit einem nicht mehr krankmachenden Erreger oder eines seiner Bestandteile stimuliert. Als Folge wird ein sogenanntes Immungedächtnis aufgebaut, so dass bei einer Konfrontation mit dem eigentlichen, echten Erreger, der Körper bereits über die Werkzeuge für eine spezifische und schnelle Immunabwehr verfügt. Eine Erkrankung wird damit verhindert oder deutlich in ihrer Schwere abgeschwächt. Inwieweit auch eine geimpfte Person noch ein Infektionsrisiko darstellt, ist für das neuartige Corona-Virus noch nicht geklärt.
Eine MS stellt grundsätzlich keine Kontraindikation für Impfungen dar. Impfungen lösen keine MS aus und eine Auswirkung auf die Krankheitsaktivität ist unwahrscheinlich. Durch Impfungen vermeidbare Infektionen können einerseits schwerwiegende Erkrankungen verursachen, andererseits bei MS-Erkrankten darüber hinaus Schübe auslösen und zur Krankheitsverschlechterung beitragen. Dieses Risiko ist grundsätzlich höher einzuschätzen als potenzielle Risiken durch Impfungen. MS-Erkrankte sollten daher entsprechend den von der Ständigen Impfkommission (STIKO) des RKI empfohlenen Impfungen im Erwachsenenalter geimpft werden. Grundsätzlich sollte man sich nur impfen lassen, wenn man sich selbst wohl fühlt und nicht erste Symptome einer Erkältung bemerkt.
Für Impfungen unter MS-Therapien sind allerdings einige Hinweise zu berücksichtigen. Bei einigen Immuntherapien gibt es Hinweise auf ein vermindertes Ansprechen. Die Datenlage hierzu ist begrenzt. Grundsätzlich sind Impfungen mit Tot-Impfstoffen auch unter Therapien, die Immunzellen aus dem Körper entfernen („Zell-depletierende Therapien“) oder auf andere Art immunsuppressiv wirken möglich, das Ansprechen auf die Impfung kann unter solchen Therapien allerdings vermindert sein. Bei Lebend-Impfstoffen (wie Gelbfieber, Masern, Mumps, Röteln, Varizellen) können selten verstärkte Impfreaktionen auftreten. Die Indikation sollte bei MS-Erkrankten und insbesondere unter MS-Therapien streng gestellt werden. Lebend-Impfungen unter Ocrelizumab, Alemtuzumab, Cladribin, Fingolimod, Siponimod, Ozanimod, Natalizumab oder Mitoxantron sind kontraindiziert. Die meisten der von der STIKO im Erwachsenenalter und für Ältere empfohlenen Impfungen sind Tot-Impfstoffe und können auch für MS-Erkrankte uneingeschränkt empfohlen werden. Vor Beginn einer MS-Therapie sollte immer der Impfstatus kontrolliert und ggf. fehlende Impfungen mit Lebend-Impfstoffen nachgeholt werden, wenn die MS-Therapie entsprechend verschiebbar ist.
Aktuell sind mehrere Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 in der Entwicklung. Sie erhalten verlässliche Kurzinformationen zu ausgewählten Impfstoffen, zu denen in Europa ein Zulassungsantrag gestellt ist und ausreichende Daten veröffentlicht sind, auf der Website des Institutes für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Die Kurzinformationen beschreiben Wirkungen und Nebenwirkungen der Impfstoffe und offene Fragen. Sie werden kontinuierlich aktualisiert, sobald neue Daten vorliegen. Zusätzlich ist jeweils das aktuelle Faktenblatt zur Covid-19-Impfungen vom RKI zu empfehlen.
Aktuelle Erfahrungen aus Israel mit 500 MS Patienten, die den mRNA Impfstoff von Biontech erhalten haben, zum Teil auch schon die zweite Impfung, haben bisher keine unerwarteten Nebenwirkungen oder Aktivierung der MS gezeigt (Achiron A., Sheba Medical Center, persönliche Mitteilung).
Etablierte Konzepte (sog. Tot-Impfstoffe und Lebend-Impfstoffe):
Neue Konzepte:
Nach der Coronavirus-Impfverordnung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) vom 08. Februar 2021 sind MS-Erkrankte per se für die Schutzimpfungen mit erhöhter Priorität (§ 4 Abs.1 Nr. 2 Buchstabe b) berücksichtigt – „Personen mit Immundefizienz oder HIV-Infektion, Autoimmunerkrankungen oder rheumatologische Erkrankungen“. MS-Erkrankte, die 60 Jahre und älter sind, können aufgrund des Alters (§ 4 Abs.1 Nr. 1) und unabhängig von ihrer MS-Erkrankung mit Vorlage des Personalausweises einen Termin erhalten. MS-Erkrankte unter 60 Jahren benötigen für die Terminvergabe in dieser Priorisierungsgruppe ein ärztliches Zeugnis über das Vorliegen der in § 4 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b der Verordnung genannten Erkrankung. Arztpraxen sind zur Ausstellung dieses ärztlichen Zeugnisses berechtigt. Sofern der MS-Erkrankte aufgrund früherer Behandlung dem Arzt unmittelbar persönlich bekannt ist, kann das ärztliche Zeugnis auch telefonisch angefordert und postalisch versandt werden. Die Vergütung der Arztpraxis ist ebenfalls in der Impfverordnung in § 9 geregelt.
In Einzelfällen kann eine vorrangige Priorisierung für MS-Erkrankte, in die Gruppe für Schutzimpfungen mit hoher Priorität (§ 3 Abs.1 Nr. 2 Buchstabe j) erfolgen. Grundsätzlich sind in dieser Priorisierungsgruppe Personen, die 70 Jahre oder älter sind bereits unabhängig einer MS-Erkrankung berücksichtigt (§ 3 Abs.1 Nr. 1). Für einen Impftermin reicht auch hier die Vorlage des Personalausweises aus. MS-Erkrankte, die jünger als 70 Jahre alt sind, können umfasst sein, wenn nach individueller ärztlicher Beurteilung aufgrund besonderer Umstände im Einzelfall ein sehr hohes oder hohes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf nach einer Infektion mit dem Corona-Virus vorliegt. Das notwendige ärztliche Zeugnis für die Zugehörigkeit zu dieser Priorisierungsgruppe auch unter 70 Jahren kann nur von Einrichtungen ausgestellt werden, die von den obersten Landesgesundheitsbehörden oder beauftragten Stellen benannt worden sind (§ 6 Abs. 6). Vermutlich wird es dazu notwendig sein, entsprechende ärztliche Unterlagen einzureichen, die das Vorliegen der MS-Erkrankung belegen. Es ist daher zu empfehlen, über die jeweilige Landesregierung bzw. die zuständige Gesundheitsbehörde in Erfahrung zu bringen, welche Einrichtung nach der Impfverordnung für die Ausstellung derartiger ärztlicher Zeugnisse zuständig ist und welche Unterlagen einzureichen sind.
Hinweise:
Grundsätzlich ist eine Impfung gegen das neuartige Coronavirus (SARS CoV 2) zu empfehlen. Es ist derzeit darauf hinzuweisen, dass zu einem möglichen Einsatz der Covid-19-Impfstoffe bei Personen mit Autoimmunerkrankungen und/oder immunmodulierenden/-supprimierenden Therapien keine Daten/Erkenntnisse aus den Zulassungsstudien vorliegen und die genannten Einschätzungen auf dem Wissen über die Wirkmechanismen der MS-Therapien sowie die Wirksamkeit von Covid-19 unabhängigen Impfstoffen bei MS beruht.
Aktuelle Erfahrungen aus Israel mit 500 MS-Patienten, die den mRNA Impfstoff von Biontech erhalten haben, zum Teil auch schon die zweite Impfung, haben bisher keine unerwarteten Nebenwirkungen oder Aktivierung der MS gezeigt (Achiron A., Sheba Medical Center, persönliche Mitteilung).
Die fehlende Datenbasis lässt derzeit keine Empfehlung für einen bestimmten der aktuell in der EU zugelassenen Corona-Impfstoffe zu. Durch Analogieschlüsse von anderen Impfstoffen und Infektionen bei MS schätzen wir derzeit:
Konkrete Daten zur Abschätzung des Risiko-Nutzen-Verhältnisses der einzelnen Corona-Impfstoffe liegen uns aktuell noch nicht vor, da die Impfungen erst im Dezember 2020 mit den ersten verfügbaren Impfstoffen begonnen haben.
Wir erachten allerdings das Risiko, derzeit schwerer an Covid-19 zu erkranken und in der Folge auch eine mögliche Verschlechterung der MS zu erfahren, als sehr viel höher ein. Für eine Impfung sollte eine MS-Therapie nicht unterbrochen werden, da die Auswirkungen der Unterbrechung auf die MS höher einzuschätzen sind als eine geminderte Immunantwort durch die MS-Therapie.
Hinweis:
Es liegen aktuell keinerlei Daten zu Impfantworten auf die Corona-Impfung unter den verschiedenen Immuntherapien vor. Dennoch kann der Impferfolg aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit anderen Impfstoffen (z.B. der Grippeimpfstoffe) mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Corona-Impfstoffe übertragen werden. Im Folgenden sind alle MS-Medikamente mit den bereits vorliegenden Erfahrungen in Bezug auf Impfungen aufgeführt:
Prof. Dr. med. Ralf Gold, Vorsitzender des Ärztlichen Beirates der DMSG, Bundesverband e.V.; Neurologische Klinik der Ruhr-Universität Bochum am St. Josefs-Hospital(c) Johannes Kirchherr
Prof. Dr. med. Judith Haas, Erste Vorsitzende DMSG, Bundesverband e.V.; Mitglied im Vorstand des Ärztlichen Beirates der DMSG(c) DMSG, Bundesverband e.V.
A large case-control study on vaccination as risk factor of multiple sclerosis. Hapfelmeier A, Gasperi C, Donnachie E and Hemmer B, Neurology, 2019 July 30, DOI: 10.1212/WNL.0000000000008012.
Effects of MS disease-modifying therapies on responses to vaccinations: A review. Ciotti JR, Valtcheva MV, Cross AH.Mult Scler Relat Disord. 2020 Oct;45:102439. doi: 10.1016/j.msard.2020.102439
Effect of ocrelizumab on vaccine responses in patients with multiple sclerosis: The VELOCE study. Bar-Or A, Calkwood JC, Chognot C, Evershed J, Fox EJ, Herman A, Manfrini M, McNamara J, Robertson DS, Stokmaier D, Wendt JK, Winthrop KL, Traboulsee A., Neurology, 2020 Oct 6;95(14):e1999-e2008. doi: 10.1212/WNL.0000000000010380
Randomized trial of vaccination in fingolimod-treated patients with multiple sclerosis. Kappos L, Mehling M, Arroyo R, Izquierdo G, Selmaj K, Curovic-Perisic V, Keil A, Bijarnia M, Singh A, von Rosenstiel P., Neurology, 2015 Mar 3;84(9):872-9. doi: 10.1212/WNL.0000000000001302
PM des KKNMS zu Impfungen bei Multipler Sklerose, Dezember 2020
Neurological immunotherapy in the era of COVID-19 — looking for consensus in the literature
Korsukewitz C, Reddel SW, Bar-Or A, Wiendl H, Nat Rev Neurol, 2020 16, 493–505,
doi.org/10.1038/s41582-020-0385-8