Neurogene, d. h. auf der fehlerhaften Funktion wichtiger Nervenbahnen beruhende, Blasenstörungen gehören zu den häufigsten Begleiterscheinungen der MS. Im Verlauf der Erkrankung sind 50 bis 80 Prozent der Patienten davon betroffen. In 2 Prozent der Fälle sind Blasenstörungen alleiniges Erstsymptom, aber bei immerhin 10 bis 14 Prozent wesentlicher Teil der Erstsymptomatik.
Zwischen dem Schweregrad der Blasenstörung und dem Ausmaß der Spastik besteht ein enger Zusammenhang, was dafür spricht, dass im Wesentlichen Schädigungen des Rückenmarks für die Blasenstörung verantwortlich sind.
Zur langfristigen Vermeidung von Folgeschäden ist die frühzeitige Erkennung und symptomorientierte Behandlung von zentraler Bedeutung. Dabei ist oftmals die Bestimmung der Restharnmenge mittels Sonographie oder Einmalkatheter ausreichend. Bei unzureichendem Therapieerfolg (fortbestehende Inkontinenz und Restharnbildung) ist allerdings unbedingt eine urodynamische Untersuchung erforderlich, um die Speicher- und Entleerungsfunktion der Blase zuverlässig bestimmen zu können.
Bei MS auftretende Blasenfunktionsstörungen lassen sich in 3 Gruppen unterteilen:
Am Häufigsten ist die sogenannte Detrusor-Hyperreflexie („überaktive Blase“), bei der die Speicherfunktion der Blase eingeschränkt ist. Sie äußert sich zum Beispiel in häufigem Harndrang, Inkontinenz und Einnässen.
Es kann aber auch das Gegenteil auftreten: eine Blasen-Hyporeflexie mit verzögerter Blasenentleerung, Entleerung kleiner Urinportionen, Nachträufeln und Restharnbildung.
Daneben kommt auch eine Kombination beider Symptome vor. 6 bis 30 Prozent der Patienten betrifft die sogenannte Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie, also eine unkoordinierte Aktivität von Austreibermuskulatur und Blasenschließmuskel. Sie ist gekennzeichnet durch Harndrang, Inkontinenz, verzögerter und nicht vollständiger Blasenentleerung.
Durch das eigene richtige Verhalten können Blasenfunktionsstörungen vor allem im Frühstadium günstig beeinflusst werden. Wichtig ist:
Die medikamentöse Behandlung umfasst – je nach Art der Funktionsstörung – verschiedene Substanzen:
Bis auf Botulinumtoxin stehen alle Substanzen als Tabletten bzw. Kapseln zur Verfügung. Oxybutynin gibt es außerdem als Pflaster, das auf Hüfte, Bauch oder Gesäß geklebt und alle 3 bis 4 Tage gewechselt wird: Der Wirkstoff wird über die Haut abgegeben.
Anticholinergika: (Engwinkel)-Glaukom, schwere Darmerkrankungen
Alphablocker: Herzkrankheiten, Nierenfunktionsstörungen. Keine Einnahme während Schwangerschaft/Stillzeit.
Desmopressin: u.a. Herzmuskelschwäche, Nierenfunktionsstörungen
Anticholinergika unterdrücken die Wirkung des Botenstoffes Acetylcholin, der die Darmtätigkeit anregt.
Alphablocker blockieren die Wirkung von Adrenalin und Noradrenalin auf das vegetative (unbewusste) Nervensystem.
Desmopressin ist ein Hormon, das die (Wieder-)Aufnahme von Wasser aus der Niere in den Körper fördert und so die Urinmenge verringert.
Anticholinergika: Möglich sind vor allem Mundtrockenheit, Verstärkung einer bereits vorhandenen Verstopfung (Obstipation), seltener Herzrythmus- und Sehstörungen.
Alphablocker: Möglich sind vor allem Schwindel, Blutdrucksenkung, Schwellung der Nasenschleimhaut, Ejakulationsstörungen.
Desmopressin: Möglich sind vor allem Schwäche, plötzliche Hitze/Hautrötung, Bindehautentzündung, Kopfschmerzen.
Blasenstörungen können durch nächtlichen Harndrang zu einer deutlichen Zunahme einer eventuell vorhandenen Fatigue führen. Harnwegsinfekte können die Spastik oder andere Symptome der MS verstärken.
Es gibt zahlreiche Hilfsmittel, um im Alltag mit Blasenstörungen besser zurecht zu kommen: Vorlagen und spezielle Slips, für Männer Kondom-Urinale und Tropfenfänger.
Detrusor = musculus detrusor vesicae, Austreiber-Muskel der Blase
Hyperreflexie = gesteigerte Reflexbereitschaft
Hyporeflexie = herabgesetzte Reflexbereitschaft
Sphinkter = Blasenschließmuskel
Dyssynergie = fehlendes oder mangelhaftes Zusammenspiel von Muskeln
Sonographie = Ultraschall-Untersuchung