Lange Zeit wurde die Neuromyelitis optica, auch Devic-Syndrom genannt, als seltene Sonderform der MS betrachtet. Im Jahr 2004 konnten Forscher einen spezifischen Antikörper gegen den Wasserkanal Aquaporin-4 identifizieren, was die Abgrenzung zur MS erlaubte und die Diagnostik und Therapie grundlegend änderte. Wie die MS kann auch die Neuromyelitis optica in verschiedenen Formen auftreten und wird daher seit Einführung der neuen Diagnosekriterien von 2015 Neuromyelitis optica Spektrum-Erkrankung (abgekürzt NMOSD von englisch Neuromyelitis optica spectrum disorder) genannt.
Gemeinsam ist beiden Erkrankungen, dass sie in der Regel schubförmig verlaufen und bei der NMOSD oft – aber nicht immer - ähnliche Symptome wie bei der MS auftreten können. Diagnostiziert wird die NMOSD aufgrund spezifischer Blut-, seltener auch Liquormerkmale, und typischer Befunde in der klinischen Untersuchung und der Kernspintomographie.
Was macht die NMOSD aus?
Bei der NMOSD sind Aquaporin-4-Antikörper im Blut nachweisbar, die über eine Kaskade von immunologischen Reaktionen zu Entzündung im Zentralnervensystem führen und so die Nervenzellen schädigen, ebenso wie deren Schutzhüllen und die Sternzellen (Astrozyten), die die Nervenzellen strukturell und funktionell unterstützen. Aquaporin-4-Antikörper entstehen im Rahmen einer Autoimmunreaktion, bei der das Abwehrsystem des Körpers eigenes Gewebe für fremd hält und durch Antikörperbildung angreift. Die Ursachen der autoimmunen Antikörperbildung sind nicht abschließend geklärt, von einer genetischen Veranlagung wird ausgegangen. Im MRT sind Herde in bestimmten Hirn- und Rückenmarksregionen zu sehen. Zum Teil sind sie MS-Herden sehr ähnlich, manche lassen sich klar unterscheiden. Die Läsionen können die Sehnerven (Optikusneuritis), das Gehirn (verschiedene Regionen) und das Rückenmark (typisch sind insbesondere langstreckige Herde) betreffen. Im Gegensatz zur MS finden sich in der Region um die großen Hirnventrikel im Marklager des Gehirns meist keine Läsionen.
Um die Diagnose einer NMOSD stellen zu können, müssen festgelegte Bedingungen (Wingerchuk-Kriterien) erfüllt sein. Sie wurden von einer internationalen Expertenkommission zuletzt 2015 überarbeitet. Neben der Aquaporin-4-Antikörper positiven NMOSD definieren die Kriterien auch eine Untergruppe der NMOSD, bei der sich (bisher) keine Antikörper nachweisen lassen. Für diese Patientengruppe werden neben typischen klinischen Ausfällen spezifische Befunde in der MRT-Bildgebung gefordert, um die Diagnosesicherheit zu gewährleisten.
Die MOG-Antikörper-assoziierte Enzephalomyelitis (Abkürzung MOGAD von englisch MOG antibody-associated disease) ist eine weitere autoimmune, antikörpervermittelte Erkrankung. Sie wird erst seit kurzem von der Aquaporin-4-Antikörper negativen NMOSD abgegrenzt und als eigenständige Erkrankung angesehen. MOG ist die Abkürzung für Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein, einem Protein aus der Schutzschicht von Nervenbahnen im zentralen Nervensystem. Bei MOGAD sind MOG-Antikörper im Blut und seltener im Liquor nachweisbar. Anders als bei den oben beschriebenen Aquaporin-4-Antikörpern ist bisher noch unklar, ob MOG-Antikörper die Erkrankung auslösen oder nur eine Begleiterscheinung (sog. Epiphänomen) sind. Auch endgültige Diagnosekriterien stehen noch aus. Bei klinischen Symptomen und kernspintomographischen Befunden gibt es bei erwachsenen Patient*innen mit MOGAD eine Überlappung sowohl mit MS wie mit NMOSD. MOG-Antikörper werden insbesondere bei Kindern nachgewiesen. In der Altersgruppe unter 12 Jahren ist MOGAD häufiger als MS. Zur Immuntherapie werden ähnliche Medikamente wie für NMOSD eingesetzt. Anders als bei der schubförmigen MS bilden sich Symptome der akuten NMOSD-Attacken nur sehr schlecht zurück, oft sind die neurologischen Beschwerden ausgeprägter. Eine Sehnerventzündung kann mit einer vollständigen Erblindung einhergehen, die Rückenmarksentzündung zu einer Querschnittslähmung führen mit Verlust der Gehfähigkeit. Die Prognose der unbehandelten oder falsch behandelten NMOSD ist ungünstiger als diejenige der MS.
Therapieprinzipien – Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Deswegen ist eine rasche und konsequente Schubtherapie bei der NMOSD sehr wichtig. Als erstes wird meist eine hochdosierte Kortisongabe über drei bis fünf Tage eingesetzt. Wenn sich darunter keine Besserung einstellt, wird zeitnah, also möglichst ohne Unterbrechung, eine „Blutwäsche“ (Immunadsorption oder Plasmapherese) durchgeführt.
Die Immuntherapie der NMOSD hat wie bei der MS das Ziel, weitere Schübe zu verhindern. Es ist wichtig, dass klar zwischen MS und NMOSD unterschieden wird, da einige für MS verwendete Immuntherapien bei der NMOSD nicht wirksam sind oder sogar Erkrankungsschübe auslösen können. Erst seit 2019 gibt es eine für die Behandlung der NMOSD zugelassene Immuntherapie mit dem Wirkstoff Eculizumab. Im Sommer 2021 wurde ein zweites Medikament mit dem Wirkstoff Sartralizumab zur Therapie der NMOSD zugelassen. Mit Inebilizumab wird für 2022 die Zulassung eines dritten Medikaments in Europa erwartet. Bisher konnten nur Präparate auf Grundlage von kleineren klinischen Studien im sogenannten „off-label use“ eingesetzt werden. „Off-label use“ ist eine Anwendung eines Arzneimittels im Rahmen einer medizinischen Behandlung außerhalb des zugelassenen Erkrankungsspektrums. In Fällen in denen keine klare Unterscheidung zwischen MS und NMOSD möglich ist, wird häufig eine B-Zell-depletierende Immuntherapie eingesetzt, da dieses Wirkprinzip bei beiden Erkrankungen funktioniert.