Soziographische Merkmale: Wer besonders betroffen ist
Das soziodemografische Profil der Armut zeigt 2024 bekannte, aber weiterhin besorgniserregende Muster. Laut dem Paritätischen Armutsbericht sind Frauen mit 16,2 % stärker armutsgefährdet als Männer (14,7 %), besonders auffällig bei jungen Frauen (18–24 Jahre) und älteren Frauen ab 65 Jahren, wo jede Fünfte betroffen ist. Der Gender Pension Gap beträgt laut DIW 31,4 %: Frauen erhalten durchschnittlich 940 € Rente, Männer 1.370 €. Noch gravierender ist der Motherhood Pension Gap – Mütter sind deutlich schlechter abgesichert, vor allem mit steigender Kinderzahl. Ein Viertel der 18- bis 25-Jährigen lebt in Armut; viele von ihnen sind Studierende oder Auszubildende und zählen als „sonstige Nicht-Erwerbstätige“, obwohl sie aktiv beschäftigt sind. Auch diese Gruppe ist überproportional armutsgefährdet. Auffällig bleibt die hohe Armutsquote unter Alleinerziehenden, Menschen mit niedriger Bildung, ohne deutsche Staatsbürgerschaft und Langzeitarbeitslosen. Altersarmut liegt insgesamt bei alarmierenden 19,4 %.
Wichtig ist, nicht nur auf typische Risikogruppen wie Erwerbslose, Migrantinnen oder Menschen mit geringer Bildung zu fokussieren. Zwar sind diese überdurchschnittlich betroffen, stellen aber nicht die Mehrheit der Armen dar. 63 % der Armen verfügen über ein mittleres oder hohes Bildungsniveau, 70,2 % haben die deutsche Staatsangehörigkeit. Betrachtet man die Erwerbsstatusstruktur genauer, zeigt sich: Die größte Gruppe der Armen sind keine Erwerbslosen, sondern sonstige Nichterwerbspersonen – also Schülerinnen, Studierende, pflegende Angehörige oder Menschen in Elternzeit. Zusammen mit den unter 16-Jährigen und den Rentner*innen (25 %) bilden diese Gruppen die Mehrheit der Armutsbetroffenen. Armut ist damit vor allem auch ein Problem von jungen und alten Menschen außerhalb des Erwerbslebens – und kein Randphänomen.
Materielle Entbehrung betrifft längst nicht mehr nur klassische Risikogruppen
Neben der Einkommensarmut berücksichtigt die EU mit dem AROPE-Indikator auch geringe Erwerbsbeteiligung und materielle sowie soziale Entbehrung als Armutsdimensionen. Letztere beschreibt den finanziell bedingten Verzicht auf Güter und Aktivitäten, die zum normalen Lebensstandard gehören – also Formen absoluter Armut. Gerade in Zeiten steigender Preise für Wohnen, Energie und Lebensmittel zeigt dieser Indikator besonders deutlich, wie sich Kaufkraftverluste auf das alltägliche Leben auswirken.
2024 leben in Deutschland etwa 5 Millionen Menschen in erheblicher materieller Entbehrung – darunter rund 1,1 Mio. Kinder, 3,3 Mio. Erwachsene bis 65 und 750.000 Rentnerinnen. Bemerkenswert ist, dass diese Gruppe keineswegs nur aus klassischen Risikogruppen besteht: 1,2 Millionen sind vollzeiterwerbstätig, weitere 1,2 Millionen gehören zur Gruppe der Nichterwerbstätigen jenseits von Arbeitslosen und Rentnern. Materielle Entbehrung und Einkommensarmut sind zwar eng verknüpft, aber nicht deckungsgleich: Auch Haushalte oberhalb der Armutsschwelle erleben Entbehrungen, besonders seit dem inflationsbedingten Kaufkraftverlust. Diese Entwicklung zeigt, dass finanzielle Belastungen zunehmend in die Mitte der Gesellschaft vordringen.
Armut bekämpfen - Gute Löhne, starke Sozialleistungen, bezahlbares Wohnen
Um Armut wirksam zu bekämpfen, braucht es vor allem eines: mehr Geld für armutsbetroffene Menschen – durch gute Löhne, wirksame Sozialleistungen und bezahlbares Wohnen. Viele Erwerbstätige verdienen so wenig, dass ihr Einkommen kaum über dem Niveau des Bürgergeldes liegt. Statt Sozialleistungen gegeneinander auszuspielen, müssen strukturelle Lösungen her. Dazu gehören ein armutsfester Mindestlohn von 15 Euro pro Stunde sowie Tariftreue bei öffentlichen Aufträgen, um Lohndumping zu verhindern. Auch der Sozialstaat hat vielfältige Möglichkeiten, Armut abzufedern: Familienpolitische Leistungen müssen so ausgestaltet sein, dass kein Kind in Armut aufwächst. Renten, Grundsicherung und BAföG müssen angehoben und armutsfest gestaltet werden, ebenso wie Pflegekosten solidarisch getragen werden sollten. Besonders dringlich ist die Begrenzung der Wohnkosten: 2024 gaben armutsbetroffene Haushalte im Schnitt 43,8 Prozent ihres Einkommens für Miete aus. Deshalb braucht es eine bundesweite, schärfere Mietpreisbremse, die Möglichkeit für Mietendeckel in angespannten Märkten, mehr Schutz vor missbräuchlichen Kündigungen sowie massive Investitionen in dauerhaft sozial gebundenen Wohnraum. Nur mit einer sozialen Wohnungs- und Arbeitsmarktpolitik lässt sich Armut wirksam und nachhaltig zurückdrängen.
Ausblick: Armut verstehen – und wirksam handeln
Der Armutsbericht 2024 macht deutlich: Armut in Deutschland ist kein Randphänomen, sondern betrifft weite Teile der Bevölkerung – quer durch Altersgruppen, Bildungsstände und Erwerbsverhältnisse. Die strukturellen Ursachen sind bekannt, ebenso wie viele wirksame Gegenmaßnahmen.
Die Ausweitung der Berichterstattung ab 2025 bietet die Chance, das Thema noch differenzierter in den Blick zu nehmen – und dabei Menschen sichtbar zu machen, deren Lebensrealitäten bislang zu oft im Schatten standen.