Einsatz von Kühlwesten bei MS-Erkrankten: Stellungnahme des Ärztlichen Beirates der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft, Bundesverband e.V.
Bei Multipler Sklerose (MS) kann es zu kurzfristigen Symptomverstärkungen auf Basis erhöhter Wärmeempfindlichkeit, dem sog. „Uhthoff“-Phänomen kommen. Der Sommer 2022 hat diesbezüglich vielen der etwa 280.000 MS-Erkrankten in Deutschland zu schaffen gemacht. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen zunehmend therapeutische Effekte beim Einsatz von Kühlkleidung bei diesem Phänomen auf. Mit der vorliegenden Stellungnahme aus seinem Ärztlichen Beirat, in der ein Einsatz von Kühlkleidung bei erhöhter MS-bedingter Wärmeempfindlichkeit befürwortet wird, möchte der DMSG-Bundesverband allen Betroffenen aktuelle Informationen zur Hand geben, um für den nächsten Sommer gewappnet zu sein und fragt MS-Erkrankte nach Ihren Erfahrungen: Ist der Einsatz von Kühlkleidung bei hohen Außentemperaturen sinnvoll?
Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Eines der vielfältigen Symptome dieser Erkrankung ist das sog. „Uhthoff“-Phänomen: Bei erhöhter Körpertemperatur durch Fieber, erhöhte Umgebungstemperatur oder körperliche Anstrengung nehmen – in der Regel schon vorbestehende - neurologische Symptome zu und verstärken damit die bereits bestehenden Beeinträchtigungen [Jain et al. 2020]. Diese Symptomzunahme kann sehr ausgeprägt sein und zeigt sich zumeist durch eine Visusminderung, Doppelbilder, Muskelschwäche (Lähmungen), Gleichgewichtsstörungen, Sensibilitätsstörungen sowie Einschränkungen der Blasen- und/oder Darmfunktionen. Auch ein in Zusammenhang mit der MS bestehendes Fatigue-Syndrom ist oft verschlechtert [Sumovski et al. 2014; Leavitt et al. 2015]. Hierbei handelt es sich um eine abnorm erhöhte Erschöpfbarkeit, die sich grundsätzlich von „normaler“ Müdigkeit unterscheidet, erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität hat und die Leistungsfähigkeit in Alltag und Beruf einschränkt [Flachenecker 2006; Henze et al. 2017].
Die Häufigkeit des Uhthoff-Phänomens wird bei 60-80 Prozent der MS-Erkrankten vermutet [Panginikkod 2022]. Pathophysiologisch spielen die bei MS bestehende segmentale Demyelinisierung von Nervenfasern, gestörte Nervenleitungen und Hitzeempfindlichkeit die zentrale Rolle, wahrscheinlich auch Störungen im autonomen Nervensystem im Sinne einer beeinträchtigten Schweißregulation [Jain et al. 2020]. Demyelinisierte Axone können Aktionspotentiale bei Raumtemperatur nicht weiterleiten, sind dazu jedoch nach Abkühlen in der Lage [Smith 1984]. Auch bei höheren Temperaturen sinkt die Leitungsgeschwindigkeit signifikant. So konnte gezeigt werden, dass geringe Temperatursteigerungen von nur 0,8°C okulomotorische Funktionen bei MS-Erkrankten mit Uhthoff-Phänomen verschlechtern [Davis et al. 2008]. Schon lange ist bekannt, dass auch persistierende MS-Symptome (z.B. Gliedmaßenataxie) durch lokale Kühlung in Eiswasser zumindest kurzfristig (30 bis 60 min.) verbessert werden können [Albrecht et al. 1998], so dass diese Therapie seit langem Bestandteil der Ergotherapie z.B. in Reha-Kliniken ist.
Durch eine Temperaturerhöhung ausgelöste Symptomverschlechterungen treten oftmals unvermittelt auf, so dass betroffene Patienten einen neuen MS-Schub vermuten. Im Gegensatz zu einem Schub bilden sich diese Verschlechterungen jedoch nach Abkühlung des Körpers rasch wieder zurück. Trotz dieser Rückbildung kann ein ausgeprägtes Uhthoff-Phänomen die körperlichen und kognitiven Fähigkeiten vor allem in den warmen bis heißen Sommermonaten erheblich einschränken, sportliche Betätigung (die zur Prophylaxe körperlicher Funktionseinschränkungen und zur Aufrechterhaltung des allgemeinen Gesundheitszustandes für MS-Patienten dringend empfohlen wird) erschweren oder ganz verhindern und somit eine alltagsrelevante Einschränkung von Aktivität und Teilhabe im Sinne des ICF-Modells zur Folge haben. Die ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) ist eine Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation mit der deutschsprachigen Übersetzung „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“. Diese Klassifikation dient der Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung sowie der relevanten Umweltfaktoren von Menschen.
Wirksame medikamentöse Therapien stehen nicht zur Verfügung. Die Behandlungsmaßnahmen zielen daher vor allem auf die Senkung der Köpertemperatur und die Vermeidung von Hitze ab. In mehreren klinischen Studien konnte gezeigt werden, dass die Abkühlung des Körpers durch verschiedene Kühlaggregate, Kühlanzüge oder Kühlwesten Gangstörungen, Muskelkraft, Fatigue-Symptomatik und Lebensqualität verbessern kann. So wurde jüngst in einem systematischen Review festgestellt, dass mit rechtzeitig begonnenen Kühlmaßnahmen (“pre-cooling”) einer Symptomverschlechterung vorgebeugt werden kann, ohne dass Nebenwirkungen dieser Maßnahmen feststellbar waren [Kaltsatou und Flouris 2019]. In einer geblindeten Cross-Over-Studie trugen zehn MS-Patienten mit Uhthoff-Phänomen zunächst eine Kühlweste sowie – in einem weiteren Durchgang - eine gleich aussehende, aber nicht kühlende Weste (oder umgekehrte Reihenfolge). Mit der realen Kühlweste konnten die Patienten signifikant länger und weitergehen als mit der „Sham“-Weste [Buono-Stella et al. 2020]. Bei weiteren 20 Patienten (EDSS 5-6,5) konnte in einem vergleichbaren Studiendesign die Kühlkleidung Gehgeschwindigkeit, Beinkraft und feinmotorische Fähigkeiten verbessern [Meyer-Heim et al. 2007].
In einer Studie mit 150 Patienten mit MS-bedingter Fatigue erhielten 75 Teilnehmer eine Kühlweste (Gruppe 1, Kühlweste täglich 40 min. über vier Wochen), die Kontrollgruppe nicht (Gruppe 2). Die Patienten der Gruppe 1 wiesen nach Studienende gegenüber Gruppe 2 eine geringere Fatigue sowie eine stärkere Unabhängigkeit bei den Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL) auf [Tuncay et al. 2017].
Bereits 2003 hatte die NASA/MS Cooling Study Group in ihrer kontrollierten, doppelblinden Studie mit 84 MS-Patienten und selbst berichteter Hitzeempfindlichkeit festgestellt, dass die Anwendung von Kühlkleidung sowohl bei stärkerer als auch geringerer Kühlung („high dose vs. low-dose cooling“) zu besseren Gangparametern, erhöhter Sehfähigkeit sowie besserer subjektiver Befindlichkeit führt [Schwid et al. 2003].
Positive Effekte mit verschiedenen Arten von Kühlkleidung für MS-Erkrankte wurden auch in zahlreichen weiteren Studien festgestellt [Kinnman et al., 2000; Ku et al. 2000; Beenakker et al. 2003; Nilsagård et al. 2006; Gonzales et al. 2017].
Vor diesem Hintergrund sind Bekleidungsstücke wie Kühlwesten, Stirnbänder, Nackentücher, Kühlhauben oder Kühlstrümpfe eine wesentliche Therapieoption bei MS-bedingter erhöhter Wärmeempfindlichkeit. Bei den betroffenen Patienten können auf diese Weise zahlreiche körperliche Symptome wie auch die besonders belastende und das Alltags- und Berufsleben stark einschränkende Fatigue verbessert oder – bei geplanter körperlicher Anstrengung, Umgebungshitze sowie bei Fieber – auch prophylaktisch vermieden werden. Die Teilhabe am sozialen Leben im Sinne der ICF wird damit erleichtert. Dies ist umso bedeutender, als die MS überwiegend im jungen Erwachsenenalter auftritt und das Uhthoff-Phänomen auch bei körperlich wenig beeinträchtigten Patienten vorkommen kann, also auch bei solchen, die (noch) körperlich aktiv sein wollen (und aus medizinischen Gründen auch sollen). Darüber hinaus sind diese Kühlungsmaßnahmen leicht durchführbar, nebenwirkungsfrei und relativ kostengünstig.
Aufgrund der zunehmenden wissenschaftlichen Evidenz mit deutlichen therapeutischen Effekten befürwortet der Ärztliche Beirat der DMSG, Bundesverband e.V. den Einsatz von Kühlkleidung bei erhöhter MS-bedingter Wärmeempfindlichkeit.
Autoren für den Ärztlichen Beirat der DMSG, Bundesverband e.V.:
Prof. Dr. med. Thomas Henze, Regensburg
Prof. Dr. med. Peter Flachenecker, Neurologisches Rehabilitationszentrum Quellenhof, Bad Wildbad
Literatur
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Quelle: PM vom DMSG-Bundesverband e.V. - 21.10.2022
Redaktion: DMSG-Bundesverband e.V. - 24.10.2022