Aus Studien wissen wir, dass Menschen mit MS im Vergleich zu Menschen mit anderen chronischen Erkrankungen ein sehr hohes Selbstbestimmungsbedürfnis haben. Sie wollen bei medizinischen Entscheidungen aktiv beteiligt werden. Richtig mitreden kann aber nur, wer auch über ein ausreichendes Wissen zum Thema verfügt. Nun steht Patienten ein neues Werkzeug zur Verfügung, das ihnen helfen kann, sich durch den Fragen-Dschungel zu navigieren: Am 30.05.2022 erschien mit Beteiligung der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft, Bundesverband e. V. die erste MS-Leitlinie für Patienten (kurz: Patientenleitlinie). Die Erstellung der Patientenleitlinie wurde von der Deutschen Hirnstiftung gefördert.
Grundlage für die Patientenleitlinie ist die kürzlich veröffentlichte ärztliche Leitlinie zur Diagnose und Therapie der MS (über die Inhalte hat die aktiv! mehrfach berichtet). Diese Leitlinie enthält von MS-Experten verfasste Handlungsempfehlungen für Ärzte zu allen wichtigen Aspekten des Krankheitsmanagements. Für die Erstellung saßen die Experten – u.a. Neurologen, Frauenärzte, Patientenvertreter – über Monate immer wieder zusammen und diskutierten ausführlich über die verfügbaren Studienergebnisse und ihre klinische Erfahrung zu allen wichtigen Fragen. Die Empfehlungen sind aber in medizinischer Fach-sprache geschrieben und für Laien nicht immer verständlich. In der neuen Patientenleitlinie wurden aus diesem Grund die wichtigsten Empfehlungen nun von einem Team aus Neurologen, Patientenvertretern, Experten für Patienteninformationen und Gesundheitswissenschaftlern leicht verständlich „übersetzt“. Die konkreten Empfehlungen sind gut sichtbar farblich hinterlegt. Im Fließtext finden Leser dann genauere Erklärungen, Hinweise auf wissenschaftliche Studien und Merke-Kästen, die das Verständnis der komplexen Informationen erleichtern sollen. Im Glossar können Fachbegriffe gesondert nachgeschlagen werden.
Diagnose MS
Im Kapitel „Die Diagnose MS“ geht es darum, wie eine MS-Diagnose überhaupt gestellt wird und welche Untersuchungen dafür sinnvoll und notwendig sind.
Anhand von Schaubildern können Leser nachvollziehen, wann eine sichere MS-Diagnose gestellt werden kann, wann es bei einem „Verdacht auf“ MS bleibt und wie häufig aus einem Verdachtsfall im Verlauf eine gesicherte MS wird. Diese Unterscheidung kann wichtig sein, wenn es darum geht, ob eine Immuntherapie begonnen werden soll.
Wissenswertes zur Therapie
Im Kapitel „Schubtherapie“ geht es um die Behandlung von Schüben. Es wird genau erläutert, wann und wie ein Schub mittels Kortisonstoßtherapie therapiert werden sollte, welches Ziel und welche Nebenwirkungen diese hat. Daher sollten Risiken und Nutzen einer Kortisonstoßtherapie bei jedem Schub erneut gegeneinander abgewogen werden. Wenn eine Kortisonstoßherapie nicht anschlägt, gibt es noch die Möglichkeit einer „Eskalation“. Das heißt, eine zweite, noch höher dosierte Kortisonstoßtherapie und die Durchführung einer Blutwäsche, bei der Antikörper, die vermutlich die Entzündungsreaktionen bei MS antreiben, aus dem Blut „gewaschen“ werden.
Im Kapitel „Immuntherapien“ geht es dann um die Kernfrage vieler Arzt-Patienten-Gespräche: Sollte ich eine Immuntherapie beginnen und wenn ja, welche? Wer die Wahl hat, hat die Qual: Mittlerweile stehen fast 20 Immuntherapien zur Verfügung, die seit Erneuerung der MS-Leitlinie 2021 in drei Wirksamkeitskategorien – mäßig, stark und höchst wirksam – eingeteilt werden. Zu allen Immuntherapien gibt es einen kurzen Übersichtstext.
In den Folgekapiteln geht es dann um die Behandlung bei Verdacht auf MS, schubförmiger und chronischer MS. In der Regel wird zu Beginn einer schubförmigen MS ein Medikament der Wirksamkeitskategorie 1 empfohlen. Erstmals wurden von den Experten der MS-Leitlinie aber auch Patienten definiert, denen ein hochaktiver Verlauf der MS vorhergesagt wird. Diesen Risikopatienten können auch bei Ersttherapie höchstwirksame Immuntherapien (Wirksamkeitskategorie 3) angeboten werden. Natürlich wird auch auf die Besonderheiten der Behandlung der chronischen MS, d.h. der sekundär und primär progredienten MS, eingegangen. Es wird auch erklärt, wie der Wechsel einer Immuntherapie erfolgen sollte – bei Wechsel aufgrund von Nebenwirkungen innerhalb der gleichen Wirksamkeitskategorie, bei Wechsel aufgrund von Krankheitsaktivität in eine höhere Wirksamkeitskategorie. Die Frage, ob und wann eine Immuntherapie pausiert oder beendet werden kann, führt unter Neurologen schnell zu Grundsatzdiskussionen. Eine Therapiepause kann z.B. bei Patienten erwogen werden, die einen milden Krankheitsverlauf hatten und seit fünf Jahren mit einem Medikament der Wirksamkeitskategorie 1 keine Krankheitsaktivität haben.
Schwangerschaft und MS
Im Kapitel „Schwangerschaft und MS“ werden die besonderen Regeln der Schubtherapie bei Schwangeren besprochen, welche Medikamente bis zum Eintritt der Schwangerschaft oder sogar währenddessen gegeben werden können und welche auf jeden Fall vermieden werden müssen. Falls eine MS-Patientin während der Einnahme einer Immuntherapie aus Versehen schwanger wird, gibt es bestimmte Empfehlungen, z.B. zur Pränataldiagnostik (d.h. speziellen Untersuchungen des ungeborenen Kindes).
Besondere Regeln gelten auch bei Menschen über 50 Jahren, da ihr Immunsystem sich von dem junger Menschen unterscheidet (siehe “MS bei Menschen über 50“) und bei Kindern. So dürfen bei Kindern nur bestimmte Immuntherapien eingesetzt werden (siehe „MS bei Kindern“).
Am Ende der Patientenleitlinie finden sich viele hilfreiche Tipps z.B. Adressen von Selbsthilfeverbänden, Links zu Immuntherapiebroschüren und Websites mit weiterführenden Informationen.
Tieferes Verständnis für die eigene Krankheit und Therapieentscheidungen ermöglichen
Insgesamt bietet die Patientenleitlinie einfach verständliche Informationen zur Diagnose, Schub- und Immuntherapie bei MS. Symptomatische, also beschwerdeorientierte Therapien (z.B. Behandlung einer Spastik oder Blasenstörung) sind bisher nicht Gegenstand der Leitlinie, die Übersetzung auch dieser Informationen ist aber geplant.
Das Ziel der Patientenleitlinie ist es, jedem interessierten Menschen ein tieferes Verständnis für die eigene Krankheit und vor allem die damit verbundenen Therapieentscheidungen zu ermöglichen. Es soll Betroffenen ermöglichen, zu verstehen, warum Ärzte ein bestimmtes Vorgehen vorschlagen und auch, welche Alternativen es gibt. Nur so können die eigenen Vorlieben, Wünsche und Ängste mit in den Entscheidungsprozess einfließen.
Quelle: aktiv! 2/2022
Redaktion: DMSG, Bundesverband e.V. 30.06.2022